Weiter mit Auszügen aus der
fiktiven Geschichte von "Gertrud
Steiner" ...
Erstes
Kapitel |
... »Im Ernst: Wir müssen verdammt vorsichtig sein. Ich
hab dir schon gesagt, solche Sambesi-Touren werden sonst
nur unter der Führung von erfahrenen Leuten in Konvois
von drei, vier Kanus organisiert. Ich hab versucht, mich
schlau zu machen und immerhin hab ich hier mal
gelebt. Das ist zwar eine Weile her
«
»Wann warst du das letztemal in deinem Dorf, Lainet?«
»Mein Gott, das war vor
vor über zehn
Jahren!«
»Und gehen wir mal hin?«
Lainet blickte nachdenklich über den Fluß in den Busch.
»Ich weiß nicht.«
Gertrud beobachtete die Freundin, die plötzlich
verstummt war. Während sie im gleichen Takt mit ihr das
Paddel ins Wasser stieß, ließ sie Revue passieren, was
sie vom Leben der Freundin wußte und wie sich dieses
Leben mit dem ihren verbunden hatte.
Bilder aus Norddeutschland kamen ihr in den Sinn, das
Studium bis zur Lehramtsanwärterin in Bremen, daneben
die Arbeit in sogenannten K-Gruppen, die sich nach der
Universitätsgründung in der Hansestadt zu tummeln
begannen. Die Uni hatte 1971 den Lehrbetrieb aufgenommen
und bald ihren Schmähnamen weg: rote Kaderschmiede. Der
Gründungsrektor hatte der Berufung eines Dozenten
zustimmen müssen, dessen Leistung sich mehr oder weniger
auf ein Pressefoto reduzieren ließ, das ihn als Träger
eines roten Banners zeigte. Dahinter schritten würdige
Lehramthalter im hergebrachten Ornat eine Saaltreppe
herab. Der Bannertext reduzierte das Objekt der
Studentendemonstration auf den Slogan: Unter den Talaren
der Muff von tausend Jahren.
Im Juni 1970 hatte das baden-württembergische
Innenministerium die letzte aktive Hochschulgruppe des
Sozialistischen Deutschen Studentenbundes in Heidelberg
verboten. Aus ihr war dort die Kommunistische
Gruppe/Neues Rotes Forum entstanden. Im Mai 1972 hatte
diese sich mit verschiedenen anderen örtlichen
kommunistischen Zirkeln in Bremen getroffen, um zu
beraten, ob und wie eine einheitliche nationale
Organisation zum Wiederaufbau einer kommunistischen
Partei in Westdeutschland geschaffen werden könne. Im
September 1972 fand eine weitere abschließende
Arbeitskonferenz zu diesem Thema statt, und auf der
Gründungskonferenz im Juni 1973 wurden Programm und
Statut verabschiedet. Die neue Organisation erhielt den
Namen Kommunistischer Bund Westdeutschland KBW.
Drei Jahre später hatte sie bei einer Veranstaltung des
KBW den Namen »Simbabwe« zum erstenmal bewusst
wahrgenommen »Simbabwe« für »Rhodesien«. Auf
dem Bildschirm irgendwann spät abends im Dritten
Programm ein langes Interview mit einem schwarzen
Brillenträger namens Robert Gabriel Mugabe, der die
Vision eines Zusammenlebens von Schwarz und Weiß
entwickelte. Das hatte sie beeindruckt. Da war endlich
ein neues Ziel für ihren solidarischen Anspruch
nach Ende der vermeintlich nicht mehr notwendigen
Solidaritätsbewegung für Vietnam, die Amerikaner hatten
ja das gequälte Land verlassen. Ein neuer
revolutionärer Funke, um den es sich zu kümmern lohnte:
SIMBABWE! Spendensammlungen, diesmal aber ordentlich!
Waffen für die unterdrückten Schwarzen mit
Geldern, die sie sammeln half.
Auf der Suche nach einem lohnenswerten Engagement hatte
Gertrud Steiner seinerzeit verächtlich auf jene
herabgeblickt, die ihr privates Seelenheil bei Gurus
fernöstlicher Sekten suchten. Daß die maoistischen
K-Gruppen ihre Mitglieder an deutschen Universitäten mit
ähnlichen Methoden psychischen Terrors manipulierten wie
die Gehirnwäscher jener Sekten, war ihr Mitte der
siebziger Jahre noch nicht aufgegangen.
Bleichgesichtig und übellaunig sahen sie aus, weil sie
nach dem abendlichen Pflichtstudium der Schriften ihrer
Führer entgegen sonstiger studentischer Gewohnheiten
schon morgens um vier Uhr aufstanden, um sich am Werkstor
Prügel bei der umworbenen Arbeiterklasse abzuholen. Von
allem, was sie verdienten, blieb ihnen ein Bruchteil, der
Rest wurde an die Kasse der Organisation überwiesen. Von
Freunden, von den Eltern sowieso, aber auch etwa vom
(Ehe-)Partner hatte man sich fernzuhalten oder besser zu
trennen, sofern diese nicht von der Organisation für
clean befunden wurden. Kontakte nach außen waren
abzubrechen. Mindestens einmal im Monat musste man sich
nach Art der Schauprozesse vor der örtlichen Führung
selbst anklagen und Verfehlungen zugeben. Etwa, wenn man
etwas Falsches gedacht hatte. Intimste Details mussten in
Gruppengesprächen erläutert und auf ihre
Kompatibilität mit den Ideen hin abgeglichen werden.
Als der KBW sich 1985 auflöste, hinterließ er zwar jede
Menge gescheiterter Existenzen und gebrochener
Biographien, seine Führer kassierten jedoch noch schnell
dreißig Millionen Mark für den Verkauf einer
verrotteten Frankfurter Immobilie an die Commerzbank.
Acht Jahre zuvor hatten sie sie für ein Zehntel dieses
Preises erworben. Unter dem launigen Motto Wir waren die
Jeunesse dorée feierte die KBW-Elite getreu ihrer
alten Parole: Die Kapitalisten mit dem Geldsack schlagen!
auf diese Weise mit Champagner und Kaviar ihren
Abschied von der Revolution.
Außer für die Hetze und Schadenfreude der
antikommunistischen Bundesliga taugte der Abgang eines
linken Vereins für nichts etwas.
Doch Gertrud Steiner war in den folgenden Jahren eines
Besseren belehrt worden: Der enttäuschte linke
Charakter, der gestern noch gegen Resignation gewettert
hatte, weil er Erfolg für ein Argument hielt, packte
nicht einfach ein. Ein echter linker Charakter möchte,
wenn dann die Kinder kommen, die Frau ein Bäumchen im
Hof pflanzt, ein Freund zu einem Schwätzchen vorbeikommt
und nach einem guten Buch fragt, auch einmal von sich
erzählen, nachdenken, philosophische Brüche
rekonstruieren, sagen können, was er schwer erfahren und
gelernt hat, und was er bereut. Es gehört zu seinem
Charakter, daß ihn das nicht einmal ankotzt.
Gertrud Steiner hatte für ihr Engagement teuer bezahlt,
lange bevor der KBW sich auflöste: ihr Name unter
Spendenaufrufen, ihr Name drei Jahre später in einer
Gerichtsakte! Ein Prozeß, den sie in jenem Jahr verlor,
als Simbabwe unabhängig wurde und Bonn mit den
ehemaligen Terroristen Diplomaten austauschte:
Berufsverbot! Verweigerung des Beamtenstatus wegen
Unterstützung der Waffenhilfe!
Gertrud reiste nach Simbabwe sie hatte gehört,
dort würden Lehrer gebraucht. So hatte sie Lainet
kennengelernt. ...
... Lutz Fiebach blickte schaudernd auf den Farbdruck des
Bildes vom Bombeninferno in der HERALD-Ausgabe, die ihm
der Chefreporter in den Schoß gelegt hatte.
»Mal wieder im Krieg gewesen?«
»Seite drei der Name des Todesopfers! Er wurde
als Anti-Apartheid-Aktivist bezeichnet, sonst nichts.
Womit hat er sich seine Brötchen verdient? Kennen wir
ihn? In ein paar Minuten sollten die Fotos fertig sein,
die Gertrud Steiner in Harare von ihm gemacht hat,
Sekunden, bevor ihm der halbe Kopf weggerissen wurde
«
»Ihr wart dabei?
Da war doch nichts Exklusives in
der Redaktionskonferenz
«
»Und da wird auch nichts sein, Lutz! Wir sind gerade
noch einmal davongekommen
«
»Und das Mädchen hat alles im Kasten?«
»Hat sie! Vom Moment, als der Funken zündete! Aber wir
werden es nicht drucken noch nicht!«
»Ist sie auch heil rausgekommen?«
Sager biß sich auf die Unterlippe. »Sie ist
geblieben«, antwortete er kurz.
»Du hast sie allein gelassen?«
Die Frage des Chefarchivars schien einen
unausgesprochenen Vorwurf zu enthalten, noch mehr
verunsicherte Sager aber der scharfe Ton. Er nahm die
Zeitung auf, faltete sie sorgfältig zusammen, dann
blickte er wieder auf den Monitor, der noch immer ein
Foto aus Gertrud Steiners Sammlung zeigte.
»Gertrud Steiner du kennst sie
aus der
alten Zeit?«
Kaum jemand im Haus wusste, daß es Sager gewesen war,
der vor ein paar Jahren Lutz Fiebach aus der ehemaligen
K-Gruppen-Szene Frankfurts in die Hamburger Zentrale des
Verlages gelotst hatte.
Im Rückblick hatte sich für Fiebach der Kommunistische
Bund Westdeutschland nur noch wie eine
»Weltuntergangssekte«, eine Art »Schule des virtuellen
Totalitarismus« dargestellt. 1976 hatte die
Splitterpartei bei der Bundestagswahl zwanzigtausend
Zweitstimmen erhalten. Das Durchschnittsalter der knapp
zweieinhalbtausend Mitglieder lag 1975 mit 23,9 Jahren
niedriger als bei jeder Bundesligamannschaft.
Ihr fehlgeleiteter Idealismus war mit Spendenkampagnen
hemmungslos ausgepresst worden. In zwei Jahren hatte der
KBW 7,5 Millionen Mark gehortet, die er zumeist in
Immobilien und vor allem in hochmoderne Computerdruck-
und Verwaltungstechnik anlegte.
Fiebach war einer ihrer besten Programmierer gewesen. ...
»Rover Manjuki Dr. Rover Manjuki, Chefgeologe an
der Universität in Harare!«
»Woher wissen wir das?«
»Von Seite zwölf des nämlichen HERALD, Herr
Chefreporter, Kolumne Family Notices, Spalte
Todesanzeigen! Seine Studenten haben sie aufgegeben, wohl
noch am Tag des Attentats, als sie vom Tod ihres Profs
erfahren hatten.«
»Gute Arbeit!«
»Er war selber Student
«
»Klar wie Kloßbrühe!«
»
in Deutschland!«
»Bitte?«
»Als Asylant in den Siebzigern. Und er war hier
illegaler Auslandsvertreter der ZANU PF, mit besonderen
Kontakten zum KBW.«
»Woher wissen wir das?«
»Aus einer Story über den Versuch des KBW, 1976 ein
Einreiseverbot der Bundesregierung für prominente
ZANU-Funktionäre zu umgehen. Mit einem für teures Geld
gecharterten Flugzeug wurden Pässe zwischen Frankfurt
und London hin- und hergeflogen
Ja, ich durfte damals dem Robert Mugabe im Frankfurter
KBW-Haus die Hand schütteln. Für die FAZ und die FR war
Simbabwe da noch Rhodesien, und für Mugabe war unser
Dauervorsitzender, Joscha Schmierer, der große
kommunistische Führer der deutschen Arbeiterklasse und
des deutschen Volkes. So begrüßte er ihn in
leichter Verkennung der Lage
«
Fiebach lehnte sich zurück. Sein Gesicht verzog sich zu
einem bitteren Grinsen.
»Ja, ich habe sie gekannt, ganz gut sogar, dachte ich
jedenfalls, bis sie ausstieg viel früher als ich.
Wir hatten keinen Kontakt mehr. Erst als ich für deine
Gertrud-Steiner-Akte hinter ihr her recherchierte, erfuhr
ich, daß sie für ihr damaliges Simbabwe-Engagement
teuer bezahlt hat das Berufsverbot, du erinnerst
dich?
Seit ich ihr in deinem Auftrag nachspioniert habe, werde
ich das Gefühl nicht los, ihren Ausstieg mit meiner
Prahlerei beschleunigt zu haben, ohne damals selber das
zu begreifen, was ihr wohl gleich klar war. Das Bad im
Meer roter Fahnen sei nichts mehr für sie. Das war
alles, was sie mir dazu sagte. Sie verabschiedete sich
sang- und klanglos, als die Bremer Genossen sie zur
Selbstkritik aufforderten
«
Sager wartete einen Moment, als nichts folgte, sagte er:
»Na, los packs aus, Lutz. Womit hast du
geprahlt?«
Auf Fiebachs Gesicht erschien das vertraute Grinsen,
diesmal eher versonnen.
»Das war schon was, damals 1976: Wir hatten die
komplette Führung einer afrikanischen Befreiungsbewegung
im Anmarsch, ZANU-Funktionäre aus Rhodesien! Natürlich
hätte unser Joscha Schmierer seine Besucher aus dem
afrikanischen Busch gern der deutschen Arbeiterklasse und
dem deutschen Volk präsentiert. Aber immer, wenn wir
gerade einen Vertrag mit dem Pächter eines
Veranstaltungssaales unterschrieben hatten, überzeugte
ihn sogleich der uns auf dem Fuße folgende
Verfassungsschutz, besser auf das Geschäft zu
verzichten.
Das Katz-und-Maus-Spiel endete damit, daß wir kurzerhand
die gesamte Arena der Dortmunder Westfalenhalle mieteten
Geld spielte ja keine Rolle. Und die
Verfassungsschützer feixten, denn da konnten wir uns
bloß blamieren: Wenns hoch kam, brachten wir
vielleicht gerade mal zweihundert Leute auf die Beine
alles KBW-ler natürlich. Das war selbst unserer
Führung klar. Also wurde ich beauftragt, einen Erfolg zu
programmieren
Da half keine Elektronik, mein Lieber, sondern nur gute
alte Handarbeit. Wir kauften ein paar tausend Meter roten
Stoff, und im Umland waren dann so ziemlich sämtliche
türkischen Änderungsschneidereien damit beschäftigt,
innerhalb von vierundzwanzig Stunden Bahn um Bahn
zusammenzunähen.
Die aus London eingeflogene Delegation wurde dann durch
einen rot ausgeschlagenen Gang in einen ebenso
ausgestatteten Raum geführt. Die Wand- und
Deckengestelle, über die wir die roten Stoffbahnen
gehängt hatten, ließen sich kurzfristig auf die Größe
des Publikums zusammenschieben
Hätte ich mir
eigentlich patentieren lassen sollen, was?«
Fiebach schlug sich auf die Schenkel.
»Keiner unserer schwarzen Freunde hat jemals erfahren,
daß sie mit uns in einer kleinen roten Kiste saßen
mittendrin in einer leeren Arena!«
»Und das hast du Gertrud Steiner erzählt?«
»Na, vor allem von der anhaltenden Nachwirkung dieser
Aktion: Die paar tausend Meter roter Stoff waren doch zu
schade zum Wegschmeißen
«
»Neiin!
«
»Doch! So kamen damals die wallenden roten Fahnenmeere
auf die Straße. Wir hätten uns alle darin einwickeln
können
«
Sechsunddreißigstes
Kapitel |
Beim langen Warten auf ein Lebenszeichen der drei
Vermißten hatte Paul sie in eine Diskussion über die
Ursachen der sich gerade verändernden Machtstrukturen in
der Welt verwickelt, und sie hatte sich zurückversetzt
gefühlt in die Debatten ihrer Studentenjahre, als alles
so klar gewesen war: Sozialismus versus Kapitalismus
nationale Befreiungsbewegungen versus
Imperialismus und Neokolonialismus.
Ihr eigenes Eintauchen in die Widersprüche einer
afrikanischen Gesellschaft, das persönliche Erleben von
Kreativitätsmangel in nach wie vor fremdbestimmten
Denkstrukturen einerseits und von Angst und
Unterwürfigkeit in ungebrochenen, hierarchischen
Traditionen andererseits hatte bei ihr jedoch die
Vermutung genährt, es nicht bloß mit einem materiell
bestimmbaren »Oben« und »Unten« zu tun zu haben.
Vorsichtig versuchte sie sich nun an ihrer neuen Analyse.
»Natürlich, Paul, die Teilung zwischen Ost und West
nach dem Zweiten Weltkrieg war grundsätzlich ideologisch
bestimmt: Kommunismus gegen Kapitalismus.
Die Aufteilung der Welt während derselben
Geschichtsperiode in Nord und Süd hatte eher
technologische Ursachen: industrialisierte Gesellschaften
gegen solche, die von moderner Technologie ferngehalten
und damit zur Unterentwicklung verurteilt wurden. Man
könnte sagen, die Spannungen zwischen Ost und West
resultierten in einer militärischen Rivalität, die
Spannungen zwischen Nord und Süd aber in
wirtschaftlicher Ungleichheit. Richtig?«
»Richtig!«
Paul zündete sich eine neue Zigarette an, der Disput
begann ihn zu interessieren.
»Ost und West richteten letztendlich ihren Wettbewerb
beim Ausbau von Technologie und Produktion darauf aus,
immer neue Methoden der Zerstörung zu erfinden.
Währenddessen entfernten sich Nord und Süd immer weiter
in ihrem unterschiedlichen Niveau der Produktivkräfte.
Könnte es nicht sein, Paul, daß beides Ideologie
und Technologie, die die Produktivkräfte bestimmen
in der unterschiedlichen Entwicklung von Kultur
wurzeln?«
Paul stieß eine Rauchwolke aus und sah ihr nach, als sie
aus dem Lichtkreis der Paraffin-Lampe driftete.
»Eins ist klar«, sagte er dann, »offenbar war es
einfacher, die ideologische Trennung zwischen den
Blöcken in Ost und West zu überwinden, als es je sein
wird, den sich unablässig vergrößernden
technologischen Abstand zwischen Nord und Süd zu
schließen!«
»Heißt das, Modernisierung muß zwangsläufig mit
Westernisierung gleichgesetzt werden?«
»Weißt du, Gertrud, ein Afrikaner hat sich darüber
schon seit längerer Zeit Gedanken gemacht, Professor Ali
Mazrui aus Kenia. Er lehrt in den USA. Für die BBC hat
er eine großartige Fernsehserie über unsere
afrikanische Geschichte produziert. Als ich noch beim
Rundfunk war, hab ich ihn hier bei einer Vortragsreihe
erlebt. Ich hab damals durchgesetzt, daß wir seine
Vorträge mit dem Ü-Wagen aufzeichneten sie
wurden sogar gesendet , gegen manchen Widerstand!«
Paul drückte seine Zigarette aus, und Gertrud ahnte,
welcher Art die Schwierigkeiten waren, die ihn zur
Aufgabe seines Rundfunkjobs gezwungen hatten.
»Professor Mazrui gab drei Beispiele für
Gesellschaften, die versucht haben, sich außerhalb der
Ersten Welt zu modernisieren«, fuhr Paul fort.
»Die Japaner: Ihnen gelang es ab der zweiten Hälfte des
vergangenen Jahrhunderts ohne Aufgabe ihrer kulturellen
Identität. Sie folgten dem Slogan: westliche Technik,
aber japanischer Geist!
Die Türken: Unter Kemal Atatürk gaben sie dagegen in
den zwanziger und dreißiger Jahren dafür das meiste
auf, was ihre Kultur bis dahin ausgemacht hatte, vom Fes
als Kopfbedeckung bis hin zur arabischen Schrift, die
durch das lateinische Alphabet ersetzt wurde.
Und Mazrui erinnerte dann schließlich an das Beispiel
der Ägypter unter Mohammed Ali zu Beginn des neunzehnten
Jahrhunderts. Sein Versuch der Modernisierung ohne
Weggabe der wesentlichen Aspekte kultureller Identität
scheiterte an der Intervention des europäischen
Imperialismus, und nach Darstellung des kenianischen
Professors erlitt Ägypten dann ein Schicksal, das es nun
mit dem Rest Afrikas teilt.
Während Japan seine technologische Modernisierung o h n
e Westernisierung erreichte und die Türkei d u r c h
eben diese Westernisierung, durchliefen die meisten
afrikanischen Gesellschaften einen schmerzhaften Prozeß
kultureller Selbstaufgabe o h n e dafür je den Anschluß
an moderne Technologie zu erhalten!«
Beeindruckt schwieg Gertrud eine Weile, dann sagte sie
zögernd: »Afrika hat also die falschen Sachen vom
Westen geborgt: den Appetit auf den Kapitalismus, aber
nicht den unternehmerischen Geist
«
»Oder, wie Mazrui sagte: Wir tragen ihre Armbanduhren,
aber wir weigern uns, darauf die Kultur der
Pünktlichkeit zu kontrollieren!« Pauls Grinsen war
jetzt eher eine Maske.
Er lehnte sich zurück, und sein Gesicht war außerhalb
des schwachen Lichtscheins, als er sagte: »Kenias alter
Mann, Jomo Kenyatta, brachte es kurz vor seinem Tod auf
den Punkt: Als die Weißen nach Afrika kamen,
sagte er, da hatten sie die Bibel und wir das Land.
Jetzt haben wir die Bibel und sie das Land!«
»Und dein Professor?« fragte Gertrud ungeduldig. »Hat
er es bei dieser fatalistischen Einschätzung belassen?«
»Er sagt, während sich in der modernen Welt die
Inspiration für wirtschaftliche und technologische
Revolutionen ausschließlich an der Zukunft orientiert,
müsse sich die Inspiration für eine kulturelle
Revolution in der Dritten Welt auf die Restauration alter
Werte besinnen. Eine solche Wiederbelebung müsse
Revolution und Nostalgie vermählen! Er spricht von der
Notwendigkeit einer Afrikanischen Renaissance.«
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