Auszügen aus der Geschichte von "Gertrud Steiner", einer Bremer KBW-Aktivistin, die in Simbabwe mit ihrer Freundin — der Häuptlingstochter "Lainet Musora" — an den Abgrund gerät und dabei auch "Paul Musora" kennenlernt, einen frustrierten ehemaligen Befreiungskämpfer. Alle Figuren und ihre Handlungen sind fiktional, orientieren sich aber an realen Vorbildern. ...
 
  ... auf den Spuren einer internationalen Konspiration
in Afrika, Europa & Asien


Thriller von Klaus Jürgen Schmidt

In Simbabwe beginnt die Spur einer internationalen Verschwörung, die von Afrika über Europa bis Asien reicht. Simbabwe steht stellvertretend für die Heimat afrikanischer Menschen, die mühsam versuchen, jene Fremde zu verkraften, die als Ideologien und materielle Strukturen über ihr Denken und Fühlen hereingebrochen ist.

Bei ihrer Spurensuche sehen sich Protagonisten aus Nord und Süd konfrontiert mit ideologischen und spirituellen Verirrungen von Lebenswegen, die im Geflecht ihrer jeweiligen Kultur auf unterschiedliche Weise gebrochen sind. Vor dem afrikanischen Hintergrund spielt dabei eine wesentliche Rolle der mentale Konfikt zwischen Signalen aus alter und neuer Zeit, den Trommelzeichen aus afrikanischer Geisterwelt und den digitalen Chiffren globaler Computer-Kommunikation.
 
Weiter mit Auszügen aus der fiktiven Geschichte von "Gertrud Steiner" ...

Erstes Kapitel


... »Im Ernst: Wir müssen verdammt vorsichtig sein. Ich hab dir schon gesagt, solche Sambesi-Touren werden sonst nur unter der Führung von erfahrenen Leuten in Konvois von drei, vier Kanus organisiert. Ich hab versucht, mich schlau zu machen – und immerhin hab ich hier mal gelebt. Das ist zwar eine Weile her …«
»Wann warst du das letztemal in deinem Dorf, Lainet?«
»Mein Gott, das war – vor … vor über zehn Jahren!«
»Und gehen wir mal hin?«
Lainet blickte nachdenklich über den Fluß in den Busch.
»Ich weiß nicht.«

Gertrud beobachtete die Freundin, die plötzlich verstummt war. Während sie im gleichen Takt mit ihr das Paddel ins Wasser stieß, ließ sie Revue passieren, was sie vom Leben der Freundin wußte und wie sich dieses Leben mit dem ihren verbunden hatte.

Bilder aus Norddeutschland kamen ihr in den Sinn, das Studium bis zur Lehramtsanwärterin in Bremen, daneben die Arbeit in sogenannten K-Gruppen, die sich nach der Universitätsgründung in der Hansestadt zu tummeln begannen. Die Uni hatte 1971 den Lehrbetrieb aufgenommen und bald ihren Schmähnamen weg: rote Kaderschmiede. Der Gründungsrektor hatte der Berufung eines Dozenten zustimmen müssen, dessen Leistung sich mehr oder weniger auf ein Pressefoto reduzieren ließ, das ihn als Träger eines roten Banners zeigte. Dahinter schritten würdige Lehramthalter im hergebrachten Ornat eine Saaltreppe herab. Der Bannertext reduzierte das Objekt der Studentendemonstration auf den Slogan: Unter den Talaren – der Muff von tausend Jahren.

Im Juni 1970 hatte das baden-württembergische Innenministerium die letzte aktive Hochschulgruppe des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes in Heidelberg verboten. Aus ihr war dort die Kommunistische Gruppe/Neues Rotes Forum entstanden. Im Mai 1972 hatte diese sich mit verschiedenen anderen örtlichen kommunistischen Zirkeln in Bremen getroffen, um zu beraten, ob und wie eine einheitliche nationale Organisation zum Wiederaufbau einer kommunistischen Partei in Westdeutschland geschaffen werden könne. Im September 1972 fand eine weitere abschließende Arbeitskonferenz zu diesem Thema statt, und auf der Gründungskonferenz im Juni 1973 wurden Programm und Statut verabschiedet. Die neue Organisation erhielt den Namen Kommunistischer Bund Westdeutschland – KBW.
Drei Jahre später hatte sie bei einer Veranstaltung des KBW den Namen »Simbabwe« zum erstenmal bewusst wahrgenommen – »Simbabwe« für »Rhodesien«. Auf dem Bildschirm irgendwann spät abends im Dritten Programm ein langes Interview mit einem schwarzen Brillenträger namens Robert Gabriel Mugabe, der die Vision eines Zusammenlebens von Schwarz und Weiß entwickelte. Das hatte sie beeindruckt. Da war endlich ein neues Ziel für ihren solidarischen Anspruch – nach Ende der vermeintlich nicht mehr notwendigen Solidaritätsbewegung für Vietnam, die Amerikaner hatten ja das gequälte Land verlassen. Ein neuer revolutionärer Funke, um den es sich zu kümmern lohnte: SIMBABWE! Spendensammlungen, diesmal aber ordentlich! Waffen für die unterdrückten Schwarzen – mit Geldern, die sie sammeln half.

Auf der Suche nach einem lohnenswerten Engagement hatte Gertrud Steiner seinerzeit verächtlich auf jene herabgeblickt, die ihr privates Seelenheil bei Gurus fernöstlicher Sekten suchten. Daß die maoistischen K-Gruppen ihre Mitglieder an deutschen Universitäten mit ähnlichen Methoden psychischen Terrors manipulierten wie die Gehirnwäscher jener Sekten, war ihr Mitte der siebziger Jahre noch nicht aufgegangen.
Bleichgesichtig und übellaunig sahen sie aus, weil sie nach dem abendlichen Pflichtstudium der Schriften ihrer Führer entgegen sonstiger studentischer Gewohnheiten schon morgens um vier Uhr aufstanden, um sich am Werkstor Prügel bei der umworbenen Arbeiterklasse abzuholen. Von allem, was sie verdienten, blieb ihnen ein Bruchteil, der Rest wurde an die Kasse der Organisation überwiesen. Von Freunden, von den Eltern sowieso, aber auch etwa vom (Ehe-)Partner hatte man sich fernzuhalten oder besser zu trennen, sofern diese nicht von der Organisation für clean befunden wurden. Kontakte nach außen waren abzubrechen. Mindestens einmal im Monat musste man sich nach Art der Schauprozesse vor der örtlichen Führung selbst anklagen und Verfehlungen zugeben. Etwa, wenn man etwas Falsches gedacht hatte. Intimste Details mussten in Gruppengesprächen erläutert und auf ihre Kompatibilität mit den Ideen hin abgeglichen werden.
Als der KBW sich 1985 auflöste, hinterließ er zwar jede Menge gescheiterter Existenzen und gebrochener Biographien, seine Führer kassierten jedoch noch schnell dreißig Millionen Mark für den Verkauf einer verrotteten Frankfurter Immobilie an die Commerzbank. Acht Jahre zuvor hatten sie sie für ein Zehntel dieses Preises erworben. Unter dem launigen Motto Wir waren die Jeunesse dorée feierte die KBW-Elite – getreu ihrer alten Parole: Die Kapitalisten mit dem Geldsack schlagen! – auf diese Weise mit Champagner und Kaviar ihren Abschied von der Revolution.
Außer für die Hetze und Schadenfreude der antikommunistischen Bundesliga taugte der Abgang eines linken Vereins für nichts etwas.
Doch Gertrud Steiner war in den folgenden Jahren eines Besseren belehrt worden: Der enttäuschte linke Charakter, der gestern noch gegen Resignation gewettert hatte, weil er Erfolg für ein Argument hielt, packte nicht einfach ein. Ein echter linker Charakter möchte, wenn dann die Kinder kommen, die Frau ein Bäumchen im Hof pflanzt, ein Freund zu einem Schwätzchen vorbeikommt und nach einem guten Buch fragt, auch einmal von sich erzählen, nachdenken, philosophische Brüche rekonstruieren, sagen können, was er schwer erfahren und gelernt hat, und was er bereut. Es gehört zu seinem Charakter, daß ihn das nicht einmal ankotzt.

Gertrud Steiner hatte für ihr Engagement teuer bezahlt, lange bevor der KBW sich auflöste: ihr Name unter Spendenaufrufen, ihr Name drei Jahre später in einer Gerichtsakte! Ein Prozeß, den sie in jenem Jahr verlor, als Simbabwe unabhängig wurde und Bonn mit den ehemaligen Terroristen Diplomaten austauschte: Berufsverbot! Verweigerung des Beamtenstatus wegen Unterstützung der Waffenhilfe!

Gertrud reiste nach Simbabwe – sie hatte gehört, dort würden Lehrer gebraucht. So hatte sie Lainet kennengelernt. ...

Fünfzehntes Kapitel


... Lutz Fiebach blickte schaudernd auf den Farbdruck des Bildes vom Bombeninferno in der HERALD-Ausgabe, die ihm der Chefreporter in den Schoß gelegt hatte.
»Mal wieder im Krieg gewesen?«
»Seite drei – der Name des Todesopfers! Er wurde als Anti-Apartheid-Aktivist bezeichnet, sonst nichts. Womit hat er sich seine Brötchen verdient? Kennen wir ihn? In ein paar Minuten sollten die Fotos fertig sein, die Gertrud Steiner in Harare von ihm gemacht hat, Sekunden, bevor ihm der halbe Kopf weggerissen wurde …«
»Ihr wart dabei? … Da war doch nichts Exklusives in der Redaktionskonferenz …«
»Und da wird auch nichts sein, Lutz! Wir sind gerade noch einmal davongekommen …«
»Und das Mädchen hat alles im Kasten?«
»Hat sie! Vom Moment, als der Funken zündete! Aber wir werden es nicht drucken – noch nicht!«
»Ist sie auch heil rausgekommen?«
Sager biß sich auf die Unterlippe. »Sie ist geblieben«, antwortete er kurz.
»Du hast sie allein gelassen?«
Die Frage des Chefarchivars schien einen unausgesprochenen Vorwurf zu enthalten, noch mehr verunsicherte Sager aber der scharfe Ton. Er nahm die Zeitung auf, faltete sie sorgfältig zusammen, dann blickte er wieder auf den Monitor, der noch immer ein Foto aus Gertrud Steiners Sammlung zeigte.
»Gertrud Steiner – du kennst sie … aus der alten Zeit?«

Kaum jemand im Haus wusste, daß es Sager gewesen war, der vor ein paar Jahren Lutz Fiebach aus der ehemaligen K-Gruppen-Szene Frankfurts in die Hamburger Zentrale des Verlages gelotst hatte.
Im Rückblick hatte sich für Fiebach der Kommunistische Bund Westdeutschland nur noch wie eine »Weltuntergangssekte«, eine Art »Schule des virtuellen Totalitarismus« dargestellt. 1976 hatte die Splitterpartei bei der Bundestagswahl zwanzigtausend Zweitstimmen erhalten. Das Durchschnittsalter der knapp zweieinhalbtausend Mitglieder lag 1975 mit 23,9 Jahren niedriger als bei jeder Bundesligamannschaft.
Ihr fehlgeleiteter Idealismus war mit Spendenkampagnen hemmungslos ausgepresst worden. In zwei Jahren hatte der KBW 7,5 Millionen Mark gehortet, die er zumeist in Immobilien und vor allem in hochmoderne Computerdruck- und Verwaltungstechnik anlegte.
Fiebach war einer ihrer besten Programmierer gewesen. ...

»Rover Manjuki – Dr. Rover Manjuki, Chefgeologe an der Universität in Harare!«
»Woher wissen wir das?«
»Von Seite zwölf des nämlichen HERALD, Herr Chefreporter, Kolumne Family Notices, Spalte Todesanzeigen! Seine Studenten haben sie aufgegeben, wohl noch am Tag des Attentats, als sie vom Tod ihres Profs erfahren hatten.«
»Gute Arbeit!«
»Er war selber Student …«
»Klar wie Kloßbrühe!«
»… in Deutschland!«
»Bitte?«
»Als Asylant in den Siebzigern. Und er war hier illegaler Auslandsvertreter der ZANU PF, mit besonderen Kontakten zum KBW.«
»Woher wissen wir das?«
»Aus einer Story über den Versuch des KBW, 1976 ein Einreiseverbot der Bundesregierung für prominente ZANU-Funktionäre zu umgehen. Mit einem für teures Geld gecharterten Flugzeug wurden Pässe zwischen Frankfurt und London hin- und hergeflogen …
Ja, ich durfte damals dem Robert Mugabe im Frankfurter KBW-Haus die Hand schütteln. Für die FAZ und die FR war Simbabwe da noch Rhodesien, und für Mugabe war unser Dauervorsitzender, Joscha Schmierer, der große kommunistische Führer der deutschen Arbeiterklasse und des deutschen Volkes. So begrüßte er ihn – in leichter Verkennung der Lage …«
Fiebach lehnte sich zurück. Sein Gesicht verzog sich zu einem bitteren Grinsen.
»Ja, ich habe sie gekannt, ganz gut sogar, dachte ich jedenfalls, bis sie ausstieg – viel früher als ich. Wir hatten keinen Kontakt mehr. Erst als ich für deine Gertrud-Steiner-Akte hinter ihr her recherchierte, erfuhr ich, daß sie für ihr damaliges Simbabwe-Engagement teuer bezahlt hat – das Berufsverbot, du erinnerst dich? …
Seit ich ihr in deinem Auftrag nachspioniert habe, werde ich das Gefühl nicht los, ihren Ausstieg mit meiner Prahlerei beschleunigt zu haben, ohne damals selber das zu begreifen, was ihr wohl gleich klar war. Das Bad im Meer roter Fahnen sei nichts mehr für sie. Das war alles, was sie mir dazu sagte. Sie verabschiedete sich sang- und klanglos, als die Bremer Genossen sie zur Selbstkritik aufforderten …«
Sager wartete einen Moment, als nichts folgte, sagte er: »Na, los pack’s aus, Lutz. Womit hast du geprahlt?«
Auf Fiebachs Gesicht erschien das vertraute Grinsen, diesmal eher versonnen.
»Das war schon was, damals 1976: Wir hatten die komplette Führung einer afrikanischen Befreiungsbewegung im Anmarsch, ZANU-Funktionäre aus Rhodesien! Natürlich hätte unser Joscha Schmierer seine Besucher aus dem afrikanischen Busch gern der deutschen Arbeiterklasse und dem deutschen Volk präsentiert. Aber immer, wenn wir gerade einen Vertrag mit dem Pächter eines Veranstaltungssaales unterschrieben hatten, überzeugte ihn sogleich der uns auf dem Fuße folgende Verfassungsschutz, besser auf das Geschäft zu verzichten.
Das Katz-und-Maus-Spiel endete damit, daß wir kurzerhand die gesamte Arena der Dortmunder Westfalenhalle mieteten – Geld spielte ja keine Rolle. Und die Verfassungsschützer feixten, denn da konnten wir uns bloß blamieren: Wenn’s hoch kam, brachten wir vielleicht gerade mal zweihundert Leute auf die Beine – alles KBW-ler natürlich. Das war selbst unserer Führung klar. Also wurde ich beauftragt, einen Erfolg zu programmieren …
Da half keine Elektronik, mein Lieber, sondern nur gute alte Handarbeit. Wir kauften ein paar tausend Meter roten Stoff, und im Umland waren dann so ziemlich sämtliche türkischen Änderungsschneidereien damit beschäftigt, innerhalb von vierundzwanzig Stunden Bahn um Bahn zusammenzunähen.
Die aus London eingeflogene Delegation wurde dann durch einen rot ausgeschlagenen Gang in einen ebenso ausgestatteten Raum geführt. Die Wand- und Deckengestelle, über die wir die roten Stoffbahnen gehängt hatten, ließen sich kurzfristig auf die Größe des Publikums zusammenschieben … Hätte ich mir eigentlich patentieren lassen sollen, was?«
Fiebach schlug sich auf die Schenkel.
»Keiner unserer schwarzen Freunde hat jemals erfahren, daß sie mit uns in einer kleinen roten Kiste saßen – mittendrin in einer leeren Arena!«
»Und das hast du Gertrud Steiner erzählt?«
»Na, vor allem von der anhaltenden Nachwirkung dieser Aktion: Die paar tausend Meter roter Stoff waren doch zu schade zum Wegschmeißen …«
»Neiin! …«
»Doch! So kamen damals die wallenden roten Fahnenmeere auf die Straße. Wir hätten uns alle darin einwickeln können …«

Sechsunddreißigstes Kapitel


Beim langen Warten auf ein Lebenszeichen der drei Vermißten hatte Paul sie in eine Diskussion über die Ursachen der sich gerade verändernden Machtstrukturen in der Welt verwickelt, und sie hatte sich zurückversetzt gefühlt in die Debatten ihrer Studentenjahre, als alles so klar gewesen war: Sozialismus versus Kapitalismus – nationale Befreiungsbewegungen versus Imperialismus und Neokolonialismus.
Ihr eigenes Eintauchen in die Widersprüche einer afrikanischen Gesellschaft, das persönliche Erleben von Kreativitätsmangel in nach wie vor fremdbestimmten Denkstrukturen einerseits und von Angst und Unterwürfigkeit in ungebrochenen, hierarchischen Traditionen andererseits hatte bei ihr jedoch die Vermutung genährt, es nicht bloß mit einem materiell bestimmbaren »Oben« und »Unten« zu tun zu haben.
Vorsichtig versuchte sie sich nun an ihrer neuen Analyse.
»Natürlich, Paul, die Teilung zwischen Ost und West nach dem Zweiten Weltkrieg war grundsätzlich ideologisch bestimmt: Kommunismus gegen Kapitalismus.
Die Aufteilung der Welt während derselben Geschichtsperiode in Nord und Süd hatte eher technologische Ursachen: industrialisierte Gesellschaften gegen solche, die von moderner Technologie ferngehalten und damit zur Unterentwicklung verurteilt wurden. Man könnte sagen, die Spannungen zwischen Ost und West resultierten in einer militärischen Rivalität, die Spannungen zwischen Nord und Süd aber in wirtschaftlicher Ungleichheit. Richtig?«
»Richtig!«
Paul zündete sich eine neue Zigarette an, der Disput begann ihn zu interessieren.
»Ost und West richteten letztendlich ihren Wettbewerb beim Ausbau von Technologie und Produktion darauf aus, immer neue Methoden der Zerstörung zu erfinden. Währenddessen entfernten sich Nord und Süd immer weiter in ihrem unterschiedlichen Niveau der Produktivkräfte.
Könnte es nicht sein, Paul, daß beides – Ideologie und Technologie, die die Produktivkräfte bestimmen – in der unterschiedlichen Entwicklung von Kultur wurzeln?«
Paul stieß eine Rauchwolke aus und sah ihr nach, als sie aus dem Lichtkreis der Paraffin-Lampe driftete.
»Eins ist klar«, sagte er dann, »offenbar war es einfacher, die ideologische Trennung zwischen den Blöcken in Ost und West zu überwinden, als es je sein wird, den sich unablässig vergrößernden technologischen Abstand zwischen Nord und Süd zu schließen!«
»Heißt das, Modernisierung muß zwangsläufig mit Westernisierung gleichgesetzt werden?«
»Weißt du, Gertrud, ein Afrikaner hat sich darüber schon seit längerer Zeit Gedanken gemacht, Professor Ali Mazrui aus Kenia. Er lehrt in den USA. Für die BBC hat er eine großartige Fernsehserie über unsere afrikanische Geschichte produziert. Als ich noch beim Rundfunk war, hab ich ihn hier bei einer Vortragsreihe erlebt. Ich hab damals durchgesetzt, daß wir seine Vorträge mit dem Ü-Wagen aufzeichneten – sie wurden sogar gesendet –, gegen manchen Widerstand!«
Paul drückte seine Zigarette aus, und Gertrud ahnte, welcher Art die Schwierigkeiten waren, die ihn zur Aufgabe seines Rundfunkjobs gezwungen hatten.
»Professor Mazrui gab drei Beispiele für Gesellschaften, die versucht haben, sich außerhalb der Ersten Welt zu modernisieren«, fuhr Paul fort.
»Die Japaner: Ihnen gelang es ab der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ohne Aufgabe ihrer kulturellen Identität. Sie folgten dem Slogan: westliche Technik, aber japanischer Geist!
Die Türken: Unter Kemal Atatürk gaben sie dagegen in den zwanziger und dreißiger Jahren dafür das meiste auf, was ihre Kultur bis dahin ausgemacht hatte, vom Fes als Kopfbedeckung bis hin zur arabischen Schrift, die durch das lateinische Alphabet ersetzt wurde.
Und Mazrui erinnerte dann schließlich an das Beispiel der Ägypter unter Mohammed Ali zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Sein Versuch der Modernisierung ohne Weggabe der wesentlichen Aspekte kultureller Identität scheiterte an der Intervention des europäischen Imperialismus, und nach Darstellung des kenianischen Professors erlitt Ägypten dann ein Schicksal, das es nun mit dem Rest Afrikas teilt.
Während Japan seine technologische Modernisierung o h n e Westernisierung erreichte und die Türkei d u r c h eben diese Westernisierung, durchliefen die meisten afrikanischen Gesellschaften einen schmerzhaften Prozeß kultureller Selbstaufgabe o h n e dafür je den Anschluß an moderne Technologie zu erhalten!«
Beeindruckt schwieg Gertrud eine Weile, dann sagte sie zögernd: »Afrika hat also die falschen Sachen vom Westen geborgt: den Appetit auf den Kapitalismus, aber nicht den unternehmerischen Geist …«
»Oder, wie Mazrui sagte: Wir tragen ihre Armbanduhren, aber wir weigern uns, darauf die Kultur der Pünktlichkeit zu kontrollieren!« Pauls Grinsen war jetzt eher eine Maske.
Er lehnte sich zurück, und sein Gesicht war außerhalb des schwachen Lichtscheins, als er sagte: »Kenias alter Mann, Jomo Kenyatta, brachte es kurz vor seinem Tod auf den Punkt: ›Als die Weißen nach Afrika kamen,‹ sagte er, ›da hatten sie die Bibel und wir das Land. Jetzt haben wir die Bibel und sie das Land!‹«
»Und dein Professor?« fragte Gertrud ungeduldig. »Hat er es bei dieser fatalistischen Einschätzung belassen?«
»Er sagt, während sich in der modernen Welt die Inspiration für wirtschaftliche und technologische Revolutionen ausschließlich an der Zukunft orientiert, müsse sich die Inspiration für eine kulturelle Revolution in der Dritten Welt auf die Restauration alter Werte besinnen. Eine solche Wiederbelebung müsse Revolution und Nostalgie vermählen! Er spricht von der Notwendigkeit einer Afrikanischen Renaissance.«

 
  Mao museal ... und die reale Erinnerung zweier Zugvögel
zur Ausstellung des Bremer Übersee-Museums 11.10.2014 - 05.04.2015
 
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